Tag 14 - 16: Seattle
Am späten Nachmittag kommen wir in Seattle an. Für 19:00 haben wir Tickets im Sky View Observatory gebucht, nachdem wir es in Chicago auch bereits so gehalten haben, einen Blick über die Stadt von weit oben zu bekommen. Daher haben wir noch ein wenig Zeit und fahren nach West Seattle, um von dort einen grandiosen Blick über den Puget Sound auf die “Waterfront” von Seattle zu haben.
Anschließend geht es weiter zum Aussichtsdeck.
Auch hier haben wir uns bewusst nicht für den berühmtesten Wolkenkratzer entschieden, auch wenn die Space Needle gar kein solcher im engeren Sinne ist.
So befindet sich die Aussichtsetage im Columbia Center, dem höchsten Gebäude von Seattle und von ganz Washington, auf einer Höhe von 275 Meter - wohingegen die Space Needle insgesamt nur auf eine Höhe von 184 Meter kommt.
Außerdem hat man von hier eben auch einen Blick auf das etwas entferne, aber dennoch gut sichtbare Wahrzeichen von Seattle.
Preislich fair ist der Ausguck auch ziemlich informativ gestaltet, das Personal gibt gute Hinweise und
es werden viele “Fun Facts” präsentiert: so sind beispielsweise viele Brücken in Seattle schwimmende Pontonbrücken und das Skigebiet am, von hier oben zu sehenden, Mount Baker hat mit fast 29 Metern Neuschnee in einer Saison einen Weltrekord aufgestellt.
Am nächsten Morgen fahren wir mit dem “Light Rail” (in diesem Fall vergleichbar mit einer Mischung aus Straßenbahn, S-Bahn und U-Bahn) in die Innenstadt, da unser Motel etwas außerhalb liegt. Der Nahverkehr in Seattle ist - zumindest für unsere Ansprüche als Touristen - sehr gut ausgebaut und auch sehr preiswert, deutlich günstiger als daheim. Letzteres gilt übrigens für alle bisher besuchten Städte: Montreal, Chicago, Portland - überall ist Nahverkehr erstaunlich günstig. Fairerweise muss man aber auch sagen, dass er sich oft nur auf wenige Routen beschränkt und keine vollwertige Alternative zum Auto darstellen kann - und daher womöglich besonders attraktiv sein muss, um Kanadier und Amerikaner dazu zu bewegen, nicht mit dem Auto in die Innenstadt zu fahren.
Erster Programmpunkt für heute: Bill Speidel’s Underground Tour. Bill Speidel ist ein Journalist, der ein Buch über die Gründerväter Seattles geschrieben hat und dem die Bewahrung und Zugänglichmachung des Untergrunds von Seattle am Herzen liegt. Und die Geschichte von diesem ist wirklich äußerst spannend - und ziemlich kurios noch dazu. Das erste Seattle - der Name leitet sich übrigens von einem damaligen, lokalen Häuptling namens “Se Alt” ??? ab - wurde an einem ziemlich steilen Hang errichtet. Es gab keine wirkliche Kanalisation, man behalf sich mit oberirdischen Rinnen. Straßen waren schlecht und voller Löcher: Der Volksmund berichtet sogar von einem Kind, dass in einem Schlagloch ertrunken sein soll.
1899 kam es dann durch, einen auf dem Herd vergessenen Topf, zum “Großen Feuer von Seattle” - und zumindest die Führerin der Untergrundtour stellt es so dar, dass dies - rückwirkend betrachtet - das Beste war, was Seattle passieren konnte: Man konnte nochmal von vorne anfangen und es diesmal besser machen. Zumal wohl nicht ein einziges Todesopfer durch das Feuer zu beklagen war. Man wollte nun also mit großem Aufwand den Hang oben abtragen und unten aufschütten, um am Ufer besser gegen Hochwasser geschützt zu sein und weniger steile Straßen zu haben. Die Bürger von Seattle wollten aber nicht jahrelang mit dem Wiederaufbau ihrer Häuser und Geschäfte warten - und so begannen sie damit, wohl wissend, dass das Straßenniveau angehoben werden würde. Je nach Lage sah man also nicht nur im Erdgeschoss einen Eingang vor, sondern auch im ersten, zweiten oder gar dritten Stock. Mühe in die Fassade investierte man natürlich auch nicht für Etagen, die später einmal unterhalb des Straßenniveaus liegen würden. Um die neuentstandenen Häuserblocks herum wurden Mauern gezogen, diese mit dem Schutt der alten Häuser verfüllt und darüber die neuen Straßen gelegt. Man solle sich die Stadt wie eine große Waffel vorstellen, so die Führerin: das aufragende Gitter wären dann die Straßen, die Vertiefungen die umschlossenen Gebäudeblocks. Die Anfangszeiten waren wohl besonders abenteuerlich: um die gerne mal 3 bis 10 Meter höhergelegenen Straßen zu erreichen, ließ die Stadt Strickleitern anbringen. Wollte man also vom tieferliegenden “Gehweg” auf die andere Seite kommen, so musste man eine Strickleiter hoch, ohne überfahren zu werden auf die andere Seite gelangen und dann wieder hinabsteigen. Die Stadtgeschichtsschreibung verzeichnet wohl 17 Tote durch Abstürze bei ebensolchen Manövern. Mit der Zeit wurde Seattle immer wohlhabender und man überbaute immer mehr dieser Gräben mit Gehwegen - und so entstand der Untergrund von Seattle, der in Teilen noch heute erhalten und mit einer Tour besichtigt werden kann. Anfang des 20ten Jahrhunderts wurde der Untergrund noch rege genutzt - allerdings wimmelte es dort wohl von Ratten und so brach 1907 die Pest aus. Man sperrte den Untergrund also und mauerte Eingänge zu. Für Jahrzehnte wurde er dann nicht mehr legal genutzt, dürfte aber dennoch zu Zeiten der Prohibition eine wahre Renaissance erlebt haben. Viele der alten Gänge gibt es heute nicht mehr, einige sind allerdings noch erhalten und werden als Lager genutzt - oder eben, um Touristen einen Eindruck zu vermitteln, wie es früher so in Seattle gewesen sein muss. Wir erfahren noch viele weitere Anekdoten zur Entstehung und Entwicklung von Seattle auf der Tour, aber der Autor hat das Gefühl, die Geduld des geneigten Lesers hier ohnehin schon aufs Äußerste zu strapazieren.
Wieder an der Oberfläche spazieren wir über den Pioneer Square, den Occidental Square und die angrenzenden Straßen. Hier ist Seattle eine interessante Mischung aus moderner Metropole und alter Pionierstadt, da noch viele “alte” Gebäude stehen. Leider gibt es auch hier wieder viele Obdachlose, deren Verhalten durchaus selbstgefährdend ist und denen man wünschen würde, dass es ein Sozialsystem gäbe, dass sie auffangen würde und Ihnen eine Behandlung ermöglichen würde. Stattdessen schauen die Passanten zwar nicht weg, interessieren sich allerdings aber auch gar nicht für sie. Brüllt ein offensichtlich mental kranker Mann einen Passanten an, so ignoriert dieser ihn einfach. In dieser modernen Metropole mit Hochhäusern und Büros von einigen der größten Unternehmen der Welt leben sie in einer weit weniger strahlenden Parallelwelt.
Diese andere Einstellung hinsichtlich (sozialer) Unterstützung durch den Staat macht eben den “American Way of Life” entscheidet aus - ebenso wie die Vorstellung, dass jeder es schaffen kann vom “Tellerwäscher zum Millionär” aufzusteigen. Und hier knüpft perfekt unsere nächste Aktivität an: der Besuch des Klondike Gold Rush Historical Park. Hierbei handelt es sich um ein vom National Park Service betriebenes Museum, welches die Geschichte vom Goldrausch am Klondike River und dem damit unmittelbar verbundenen Aufstiegs Seattles erzählt.
Auch wenn der Klondike in Kanada liegt - so hat Seattle es mit einem groß angelegten, weltweitem Marketing geschafft, sich als den besten Ausgangspunkt für eine Expedition zu den Goldfeldern darzustellen. Das dahintersteckende Marketinggenie war so überzeugend, dass er sich selbst am Ende überzeugt hat und nach Kanada gereist ist - und später erfolglos zurückkehrte. Brachte der Goldrausch viel Geld nach Seattle - irgendwo mussten schließlich Ausrüstung, Schiffspassagen gekauft und später das Gold in Dollar getauscht und ausgegeben werden - so brachte er auch Probleme mit sich: Straßenbahnfahrer, Bauarbeiter etc. kündigten ihre Jobs und wagten die Reise in den Norden. Selbst der damalige Bürgermeister von Seattle kabelte seinen Rücktritt und machte sich auf den Weg. Letztlich hat sich das Risiko allerdings nur für einen Bruchteil der Wagemutigen gelohnt: Schätzungsweise sind 100.000 Menschen aufgebrochen, 40.000 am Klondike angekommen (es gab unterschiedliche Routen, mehr oder weniger kräftezehrend; herausfordernd waren sie jedoch alle), 20.000 haben Claims abgesteckt oder erkundet. Von diesen haben letztlich nur ca. 300 eine Menge an Gold im Wert von 15.000 USD (heute circa 330.000 USD) zutage gefördert. Und reich geblieben sind letztlich von 100.000 nur geschätzt 50 Menschen - ganze 0,05 %.
Mit der Metro geht es weiter zum Pike Place Market - einem großen und bei Touristen sehr beliebten Markt, der sich über mehrere Etagen erstreckt und in dem es von frischem Fisch bis hin zu alten Münzen so einiges zu kaufen gibt. Eine Shopping-Mall der anderen Art.
An der Waterfront finden sich die, für amerikanische Städte, klassischen Piers mit Essensständen, Riesenrad etc.
Als nächstes besichtigen wir die Seattle Central Library - welche uns wirklich beeindruckt. Nicht nur die Architektur: Eine Glas-Stahl-Konstruktion mit großem Atrium, deren Form einen Bücherstapel nachahmen soll - ist besonders, sondern auch, was den Besuchern bzw. Benutzern hier alles geboten wird: neben Büchern gibt es hier jede Menge Computer-Arbeitsplätze, Arbeits- und Meetingräume und Ecken zum sich zurückziehen. Selbst uns als Gästen ist es problemlos möglich, noch einige wichtige Dokumente auszudrucken.
Mit der Monorail-Bahn fahren wir nun zum Seattle Center, beziehungsweise der Space Needle - dem wohl bekanntesten Wahrzeichen von Seattle. Wie der Eiffelturm und das Atomium wurde auch die Space Needle anlässlich einer Weltausstellung errichtet. Am Fuße des Aussichtsturms gibt es noch jede Menge anderer Sehenswürdigkeiten wie Museen und Ausstellungen, aber uns reicht es für heute.
Mit dem Bus fahren wir den Hügel hinauf zum Kerry Park - und hier haben wir nochmal einen schönen Blick auf die Nadel und die dahinterliegende Skyline bei hereinbrechendem Sonnenuntergang. Statt diesen jedoch abzuwarten, suchen wir uns nettes Restaurant und beschließen diesen erlebnisreichen Tag bei gutem Essen bevor wir wieder mit der Metro zum Motel zurückfahren.